Du hast die Sonne nie gesehen.
Hast niemals ihre Wärme gespürt auf Deiner Haut.
Hast dem Meer nie gelauscht, seinem niemals endenden Rauschen und Tosen.
Das Salz in der Luft. Du hättest es geschmeckt auf deinen Lippen.
Der Wind in Deinen Haaren. Du hättest ihn geliebt, wärest mit ihm um die Wette gelaufen. Da unten am Strand, im warmen Sand.
Das Kreischen der Möwen, das leise Knarzen der hölzernen Boote im Auf und Ab der Wellen.
All das durftest Du nicht erleben.

Du hast den Boden nie gespürt.
Unter Deinen kleinen Füssen.
Warmes weiches Moos im schattigen Wald, den heißen Asphalt in der Julisonne, kühles feuchtes Gras an einem grauen Regentag.
Du lerntest nicht, Schritt für Schritt Deinen Weg zu bahnen hinein in Dein Leben, an der Hand geführt, vorsichtig und ängstlich, die ersten Meter in die Selbstständigkeit.

Du durftest nicht schmecken die Süße des Honigs, nicht riechen den Duft der Blumen.
Durftest Deinen Hunger nicht stillen. Die Milch aus der Brust Deiner Mutter war Dir nicht vergönnt.

Ich habe Dein Lachen nie gehört, das Strahlen Deiner Augen nie gesehen. Wir lernten einander nicht kennen. Du wurdest nicht gefragt, ob Du leben willst.

Du hast die Sonne nie gesehen.
Deine Reise wurde beendet, bevor sie begann.
Du hast Dich aufgemacht, mit Engelsflügeln.
Bist entkommen dem Martyrium, das Dich empfangen hätte.

Flieg weiter, schau nicht zurück, zur Sonne, die Du nie gesehen hast.
Ich denke an Dich. Vermisse Dich, obgleich ich Dich nicht kannte. In meiner Kehle steckt Dein Schrei. Anklagend, verzweifelt, traurig, wütend.

Lebe wohl, mein Kind!