Montag, 10. April 2017
Dein Blick ist sorgenvoll, in die Ferne gerichtet, als fändest du am Horizont, dort in der Weite, eine Lösung für all jenes, was deine Gedanken wie ein dichter grauer Herbstnebel betrübt. Du bist weit weg, irgendwo in den dunklen geistigen Sphären der Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit gefangen. Wo ist Heimat? Dein Gesicht spiegelt sich im Glas des Fensters, aus dem du schaust. Erstarrte Konturen, Verharren in der Gedankenschleife.
Ich stehe neben dir, lege meine Hand auf deine Schulter. Hinter uns das trostlose dunkle einfache Hotelzimmer. Tisch, Bett, Stuhl. Pragmatismus des Alltags. Mehr braucht es nicht. Zum Leben und Überleben. Wir bleiben gefangen im Halbdunkel des Zimmers. Du schaust müde aus. Drei Nächte ohne Schlaf. Ein Wechsel aus manischer Euphorie und depressiver Erschöpfung. Beziehung in vier Wänden. Das Sonnenlicht würde sie zerstören. Du ziehst den Vorhang zu. Zurück in der Dämmerung des Raumes legst du dich auf das weiße Laken des spartanischen Bettes. Ein Sonnenstrahl hat sich seinen Weg gebahnt, zwischen Fensterrahmen und Vorhang, hat zu dir gefunden, fällt in einem schmalen gleißend hellen Streifen auf dein Gesicht. Du erhebst dich leise und zügig, ziehst den Vorhang zu. Das Sonnenlicht stirbt auf deiner Haut einen schnellen Tod. Denn im Sonnenlicht können wir nicht existieren.




Montag, 27. März 2017
Auf der Autobahn. Vor mir der endlose graue Asphalt. Weiße Streifen, Markierungen, Wegweiser. Das silbrige Metall der ebenso endlosen Leitplanken. Hinter mir im Rückspiegel nur Elend und Kummer. Über mir der dunkle Himmel mit seinem formlosen grauen Wolken, das letzte Licht des Tages. Die Räder fressen sich in den Asphalt, saugen ihn ein wie ein Magnet, spucken ihn hinterrücks wieder aus wie eine unappetitliche Mahlzeit. Im Rückspiegel ein Blick in die Vergangenheit, die ich mit jedem Meter, den ich gefahren bin, hinter mir lasse. Das immer selbe Spiel. Bäume und Sträucher eilen vorbei, sind für wenige Sekunden Teil meiner Gegenwart, bevor sie in der Vergangenheit des Spiegels im schwarzen Nichts verschwinden. Immer weiter vorwärts in eine unbekannte Zukunft, das Geschehene hinter mir lassend, das mich immer wieder einholt. Ich überhole andere. Jedes Blech birgt sein eigenes Schicksal, das ich nicht kenne und niemals kennenlernen werde. Das monotone Brummen des Motors besänftigt meine gequälte Seele. Von der leisen Musik aus dem Radio vernehme ich nur die immer gleichen Rhythmen, lullen mich ein, wie in Trance, während mein Blick wie hypnotisiert auf das graue Band des Asphalts vor mir gebannt ist. Raum ist Zeit und Zeit ist Raum. Mit jedem Kilometer verrinnen die Sekunden, Minuten und Stunden, wie der nie endende Lauf eines Uhrwerks. Ich entfliehe den düsteren Zeiten der Vergangenheit, bewege mich unaufhaltsam in Richtung Zukunft. Die Frau aus dem Süden. Ein endloser Schal um ihren Hals, endlos wie das graue Straßenband vor mir, das für den Bruchteil einer Sekunde meine vergängliche Gegenwart darstellt, dann verschwindet in der Vergangenheit des Spiegels. Mit jedem Tag verblasst das Bild der Frau aus dem Süden, um erneut in den buntesten Farben wieder vor meinem Auge aufzutauchen. Ihr helles Licht blendet mich, lässt mich erblinden für den Horizont vor mir, für die Vergangenheit, die mit jeder Sekunde im Rückspiegel kleiner wird, bis sie ganz aus meinem Leben verschwunden ist. Die Scheinwerfer fressen sich in die Dunkelheit, die mich umgibt, in den schwarzen Asphalt der Nacht. Die Schwärze der Nacht. Der Horizont der Zukunft ist nicht mehr erkennbar. Blindes Tasten in fremden Raum. Das Licht der Frau aus dem Süden blendet mich wie die mir entgegenkommenden Scheinwerfer, lässt einen Blick in die Ferne nicht mehr zu. Nur noch im Spiegel erkenne ich das Vorbeigezogene, die Gegenwart, als verronnene Vergangenheit. Ich sehe sie vor mir. Die Frau aus dem Süden. Blendend, betörend, hypnotisierend. Wie das Licht eines entgegenkommenden Scheinwerfers, die Eintagsfliegen anlockend, um sie in den sicheren Tod zu reißen. Umdrehen, Zurückfahren. Ein sinnloses Unterfangen. Die Vergangenheit ist nicht rückgängig zu machen. Nicht in der Dimension der Zeit. Zeit ist nicht Raum. Ich fahre weiter auf dem grauen Asphaltband. Trostlos, monoton. Die aufgehende Sonne, das Licht des anbrechenden Tages lässt das Blenden der entgegenkommenden Scheinwerfer ersterben. Und das Echo der Frau aus dem Süden wird verhallen und ihr Antlitz im Spiegel immer kleiner werden, bis es nicht mehr erkennbar ist.




Seit mehr als einem Jahr kennen wir einander nun. Unsere Treffen sind stets kontemplativ, klandestin, spannungsgeladen, finden stets hinter verschlossenen Türen statt. Der Mythos der Geheimhaltung. Was ist es, was uns verbindet? Wir fühlen zueinander hingezogen, ohne einander zu lieben. Liebe? Was ist das schon! Ein emotionaler Habituationszustand, der eintritt, wenn man zu viel Zeit miteinander verbracht hat. Gewohnheit. Ein Zustand der emotionalen Abhängigkeit. Längst ist die Leidenschaft aufgebraucht, das Verlangen nach dem Körper des anderen ebenso. Die Liebe sucht die Nähe, das Verlangen die Distanz.

Wir sitzen einander gegenüber. Schweigend, eine Zigarette rauchend. Wir haben lernen müssen miteinander zu sprechen. Noch immer fällt es uns gelegentlich schwer, die richtigen Worte zu finden. Wie auch heute Abend. Wir haben aber auch gelernt, mit dem Schweigen umzugehen, das anfänglich Beklemmungsgefühle heraufbeschworen hat. Das Schweigen als Kontaktabbruch. Das Schweigen als Symbol der Bedeutungslosigkeit unserer Liaison, ganz ohne Tiefgang und Zukunft, dafür gegenwartsorientiert und triebmotiviert.

Das Rauschen und Raunen der Straßen dringt durch das geöffnete Fenster. Der Puls der Stadt. Noch sind die Äste der Alleebäume kahl. Wir hängen unseren Gedanken nach, nippen gelegentlich an unseren Teetassen. Ich beobachte sie von der Seite, bemerke ihren sorgenvollen Blick hinaus aus dem Fenster in die Ferne, zum Horizont, wo die Hochhäuser der Stadt eine eindrucksvolle Silhouette bilden.

Liebe haben wir nie empfunden. So, wie eine Pflanze zum Wachsen Wasser, Luft und Licht benötigt, wächst Liebe durch Vertrauen, Nähe und Fürsorge. Nichts von dem konnten wir einander geben. Geblieben sind Lust und Verlangen, Leidenschaft.

Wir drücken unsere Zigaretten aus und begeben uns zurück zum Sofa.




Als Du gestorben bist, war ich nicht dabei. Ich kam zu spät, nur wenige Sekunden, noch mit dem Kaffeebecher in der Hand, an Dein Sterbebett.

Ich betrauerte Dich nur kurz. Vielleicht an den Tagen nach Deinem Tod, als die Erinnerung an Dich noch wenig verblasst gewesen ist. Gar nicht so sehr Dein Verlust schmerzte mich, vielmehr das Mitleid, das ich empfand in den letzten Wochen und Tagen Deines Lebens, die so voller Schmerz und Leid gewesen sind.

Du bist wenig präsent gewesen in meinem Leben, in all den Jahren, warst stets ein Schatten neben Deiner übermächtigen Frau, meiner Mutter.

Du warst ein stiller freundlicher Mann, allen wohlgesonnen, niemals ein böses Wort auf den Lippen.

Manchmal trage ich Deine Uhr. Die, die Du noch auf Deinem letzten Weg getragen hast. Dann fühle ich mich Dir näher, als Du es zu Lebzeiten je gewesen bist.

Du bist nicht mehr da. Dein Sessel im Wohnzimmer bleibt leer. Du pfeifst keine Lieder mehr. Nie mehr die Schritte Deiner Hausschuhe auf der Holztreppe.

Du warst schon lange verschwunden aus meinem Leben. Ich habe Mitleid empfunden, als ich Dich habe leiden sehen. Als Du gegangen bist, blieben die Erinnerungen an Dich, der Schmerz ob Deines Verlustes aber verblasste rasch.

Ich frage mich, welche Bedeutung Du für mich gehabt hast. Erst jetzt, wo Du tot bist, stelle ich mir diese Frage. Ich spüre keine Trauer, keinen Schmerz.

Manchmal treten Menschen in unser Leben, nur ganz kurz, für wenige Tage oder Wochen, und sie verändern es für immer, haben auf Ewig einen Platz in unserem Herzen.
Und dann gibt es Menschen, mit denen wir zeit unseres Lebens Zeit verbracht haben. Dann sind sie plötzlich weg und es ist, als seien sie nie da gewesen.




Das Licht am Ende des Lebens ist das Licht am Ende des Tunnels.